6. Februar 2025, 8:34 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten
Jedes Jahr schielt man bei Netflix auch auf die Oscars. Und dieses Jahr könnte man mit „Emilia Pérez“ so richtig abräumen. Doch jetzt überschattet ein handfester Skandal die Ambitionen aller Beteiligten.
Bei Netflix geht es hauptsächlich um möglichst viele Streaming-Stunden und verkaufte Abonnements. Dafür stellt man monatlich zahlreiche neue Filme und Serien zur Verfügung, darunter viele exklusive Titel. Aber nicht nur Gewinne und Einnahmen sind wichtig – beim Streaming-Dienst möchte man auch etwas vom Prestige großer Preisverleihungen abbekommen. Deswegen mischen jedes Jahr auch ausgewählte Filmprojekte im Kinogeschäft mit, die dann hoffentlich ins Rennen für die Oscars gehen. 2025 sah es dank „Emilia Pérez“ sehr gut aus – bis jetzt. Nun könnte ein Skandal aber aus Sicht des Streaming-Dienstes alles ruinieren.
Übersicht
Darum geht es in „Emilia Pérez“
Bei „Emilia Pérez“ handelt es sich um das neue Werk des französischen Filmemachers Jacques Audiard. Darin geht es um einen mexikanischen Kartellboss, der sich zurückziehen und ein neues Leben beginnen will – als Frau. Nach der OP tritt der einstige Gangster als titelgebende Emilia auf. Doch die Vergangenheit wirft ihre finsteren Schatten voraus.
Zwar ist „Emilia Pérez“ kein eigens für Netflix produzierter Film – in Deutschland lief er über den„ Neue Visionen“-Filmverleih im Kino. Der Streaming-Anbieter ist aber in den USA und dem Vereinigten Königreich exklusiv für den Vertrieb zuständig.
Das Werk wirkt auf den ersten Blick wie ein Film, der bei den Oscars besonders gut ankommen sollte: Zeitgeistig, ein Musical, aufwendig inszenierte Nummern und engagierte Darbietungen sind zu sehen. Die internationale Presse zeigt sich insgesamt recht angetan, mit Durchschnittswertungen von guten 71 Punkten bei Metacritic und 73 Prozent bei Rotten Tomatoes. Doch die Zuschauerwertungen auf letzterer Seite sprechen eine ganz andere Sprache.
„Emilia Pérez“ ist sehr umstritten
Von mehr als 5000 eingegangenen Zuschauerbewertungen sind lediglich 18 Prozent positiv – ein katastrophal schlechtes Ergebnis. Darunter sind Stimmen zu vernehmen wie: „Meine Fremdscham hat sich so sehr fremdgeschämt, ich weiß nicht, ob sie sich jemals wieder fremdschämen wird.“ Offenbar sind viele Kinogänger schwer enttäuscht von dem Musical und dieses Sentiment bestätigt sich auch bei einem Blick auf weitere Portale und Veröffentlichungen.
Bei Letterboxd haben Kinofans am häufigsten nur einen mickrigen halben von fünf möglichen Sternen vergeben. Viele beschweren sich, dass die Musical-Einlagen schlecht seien. Der Film würde außerdem Mexiko nur sehr stereotyp zeigen und die Darsteller würden alle mit schlechten Akzenten ihre Dialoge aufsagen.
Auch kommt Kritik aus der LGBTQIA+- Richtung. Dort wirft man dem Film vor, das Dasein als Transperson nur verzerrt wiederzugeben. Das die Titelfigur nach ihrer Geschlechtsanpassung scheinbar von allen Sünden ihrer Vergangenheit nichts mehr wissen will, und der Eingriff somit als Allheilmittel in Szene gesetzt wird, stößt auch sauer auf.
„Emilia Pérez“ führt die Oscarsaison 2025 trotz aller Kritik mit 13 Nominierungen an. Das sind mehr als zum Beispiel „The Brutalist“ mit zehn, bei dem sich Kritiker wie Fans gleichermaßen einig sind, dass es sich um einen überragenden Film handelt. Allein die Tatsache, dass beide Werke gegeneinander um die begehrten Goldjungen konkurrieren, wirft ein schlechtes Licht auf die Preisverleihung. Bei „Filmstarts“ spricht man deswegen davon, dass ein „Meisterwerk gegen Müll“ kämpft.
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Karla Sofía Gascón stürzt Netflix in die Awards-Krise
Karla Sofía Gascón ist für die Kategorie der besten Hauptdarstellerin nominiert und allein das ist historisch: Dies ist das erste Mal in der Geschichte, dass eine Transperson für einen Schauspiel-Oscar nominiert ist. Dementsprechend könnte auch der Gewinn ein echter Meilenstein sein. Und bis vor Kurzem standen die Chancen gar nicht mal so schlecht.
Dann jedoch tauchten alte Twitter-Beiträge (heute X) aus Gascóns Vergangenheit wieder auf – und diese haben es in sich. Wie unter anderem „The Hollywood Reporter“ berichtete, ließ sich Gascón unter anderem mit provokanten Aussagen zum Islam und George Floyd aus. Die Aufregung ließ nicht lange auf sich warten, das Timing könnte nicht schlechter sein. Erste Vermutungen, dass es sich um eine von der Konkurrenz lancierte Schmutzkampagne handeln könnte, wies die Journalistin Sarah Hagi in einem Interview mit „Variety“ jedoch entschieden zurück.
Gascón entschuldigt sich – irgendwie
Gascóns Co-Star Zoe Saldaña, ebenfalls für einen Oscar nominiert als beste Nebendarstellerin, äußerte sich bereits zum Skandal. Während eines Events in London sagte sie, dass sie der Vorfall „wirklich traurig mache“ und sie das nicht unterstütze. „Ich toleriere keine negative Rhetorik gegen Menschen jedweder Gruppe“, wird sie zitiert.
Gascón hat sich bereits umfassend entschuldigt. Allerdings nicht einfach in Form eines Statements, sondern unter anderem auch in Form eines emotionalen TV-Interviews, in dem sich der Star zugleich auch als Opfer sieht: „Ich wurde ohne einen Prozess gekreuzigt und gesteinigt und ohne die Möglichkeit, mich zu verteidigen.“ Gascón soll angeblich das Gespräch geführt haben, ohne Netflix darüber vorher in Kenntnis zu setzen.
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Netflix reagiert auf Kontroverse um Gascón
Wie jetzt die Runde macht, distanziert sich Netflix von Karla Sofía Gascón. Wie „Variety“ schreibt, haben der Streaming-Dienst und die verantwortliche PR-Agentur die Gespräche mit dem Star eingestellt. Einzig ein Kontakt bei der Schauspielagentur würde die Kommunikation zwischen den Parteien noch ermöglichen.
Netflix soll außerdem keine Kosten mehr für Flüge und Unterkünfte übernehmen, um Gascón zu Events zu bringen. Während einer sogenannten Oscarkampagne werben Stars wie Studios für sich, um ihre Gewinnchancen zu verbessern. Dafür sind sie auf verschiedenen Veranstaltungen präsent oder veranstalten mitunter selbst welche. Nun soll Gascón selbst dafür aufkommen. Auch in Werbematerialien, die im Zuge dessen erstellt wurden, sind nur noch die Co-Stars zu sehen.
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Können Netflix, Gascón und „Emilia Pérez“ noch gewinnen?
Ob Gascón bei der am 2. März stattfindenden Oscarverleihung überhaupt zugegen sein wird, ist derzeit noch nicht bekannt. Auch ist nicht klar, ob und wie die Veranstalter auf den Skandal reagieren. Die Gewinnchancen für Netflix, Gascón und „Emilia Pérez“ dürften indes einen herben Schlag bekommen haben.
So gibt es bereits erste Stimmen von Oscarwählern, die sagen, dass sie nun nicht mehr für den Film stimmen werden. Andere lassen sich wiederum nicht davon beeinflussen. Grundsätzlich hat es schon Beispiele gegeben, bei denen ein Film erst einer Kontroverse ausgesetzt war, nur um später doch noch zu gewinnen wie etwa „Green Book“. Ob „Emilia Pérez“ auch dazugehören wird, bleibt abzuwarten.
„Emilia Pérez“ mit Karla Sofía Gascón, Zoe Saldaña und Selena Gomez ist aktuell immer noch in deutschen Kinos zu sehen. Wann der Film auch hierzulande zu Netflix kommt, ist indes noch nicht abzusehen.