18. März 2024, 16:42 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten
Ob in Google Maps, im App-freien Smartphone oder im heimischen Schwimmbad – Künstliche Intelligenz findet sich überall. Auch Supermärkte und Apotheken setzen zunehmend auf KI, um Ladendiebstähle zu verhindern.
Kosmetik, Alkohol und Käse sind neben Elektronik die Produkte, die Diebe in Supermärkten und Drogerien am liebsten mitgehen lassen. Im Jahr 2022 haben Kunden und Kundinnen durch Ladendiebstähle – oder „Inventurdifferenzen“, wie es im Fachjargon heißt – einen Verlust von 2,4 Milliarden Euro verursacht. Bei einem besonders glücklosen Laden können das bis zu 3 Prozent des Jahresumsatzes ausmachen. Überwachungskameras sollen dem unerwünschten Warenschwund vorbeugen. Doch seit einiger Zeit erhalten die traditionelle CCTV Unterstützung von Künstlicher Intelligenz. Mit sogenannten Anti-Diebstahl-Systemen wollen Start-ups wie Veesion den Einzelhändlern helfen, Ladendieben auf frischer Tat zu ertappen.
KI warnt bei „verdächtigen Gesten“
Etwa sechs Milliarden Euro kosten Inventurdifferenzen und Maßnahmen zu deren Vermeidung die Einzelhandelsbranche. Das gab das EHI Retail Institut Mitte 2023 bekannt. Da aber angesichts des chronischen Personalmangels der verstärkte Einsatz von Kaufhausdetektiven und Sicherheitspersonal oft keine Option ist, müssen smarte Lösungen her. Sowohl das Berliner Start-up Signatrix als auch die französische Firma Veesion bieten daher eine KI-Software an, die Diebstähle erkennt und direkt meldet. Bis zu 60 Prozent der Ladendiebstähle will Veesion mit seiner KI-Lösung verhindern können.
Dazu wertet das Anti-Diebstahl-System von Veesion die Videos der meist ohnehin schon installierten Überwachungskameras in Echtzeit aus. Mit einer angeblichen Erfolgsrate von 99 Prozent erkennt die KI „verdächtige Gesten“. Dazu zählt etwa, wenn ein Kunde ein Produkt in der Jackentasche verschwinden lässt. In diesem Fall sendet die Software eine Nachricht nebst Videoausschnitt an das Ladenpersonal, das nun entscheidet, ob es eingreift oder nicht.
„Nachdem der Alarm eingegangen ist, kann das Sicherheitspersonal den Dieb festnehmen, bevor er flüchten kann, und die Videobenachrichtigung nutzen, um weitere Ausschreitungen zu verhindern: Mit einem Beweis kann der Verdächtige schnell vor vollendete Tatsachen gestellt werden“, heißt es auf der Website von Veesion. Die Software von Signatrix legt den Fokus dagegen auf ungescannte Produkte am Self-Checkout-Point. Ob durch Diebstahl, Missgeschicke oder technische Komplikationen gibt es an den Selbstbedienungskassen oft eine besonders hohe Verlustmarge. Veesion arbeitet derzeit ebenfalls an einer Lösung, um Betrug sowohl an konventionellen als auch an Selbstbedienungskassen zu erkennen.
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Macht die KI uns zu gläsernen Kunden?
2018 setzte Veesion seine Software erstmals in Frankreich ein. Heute nutzen laut Unternehmensangaben rund 3000 Einzelhandelsgeschäfte in über 25 Ländern diesen KI-Detektiv. Neben Kunden in Frankreich, Großbritannien, Spanien, Portugal und Italien hat Veesion auch den Sprung nach Kanada, Brasilien und in die USA geschafft – und auch nach Deutschland. Hierzulande sichert das Anti-Diebstahl-System rund 50 Läden. Welche Supermarktketten, Apotheken oder sonstige Einzelhändler zu seinen Kunden zählen, verrät Veesion nicht. Im Vergleich zu der 120-Personen-starken Konkurrenz aus Frankreich ist Signatrix mit seinen 20 Mitarbeitenden etwas kleiner aufgestellt. Zu den von Signatrix betreuten Kunden gehören Edeka und Globus.
So nützlich die KI-Systeme aus Unternehmenssicht sein können, so sehr stellt sich auch die Frage nach den datenschutzrechtlichen Interessen der Verbraucher. Gegenüber Golem sagt Veesion: „Unsere Software ist DSGVO-konform, da wir weder eine Erfassung noch eine Analyse oder Verarbeitung biometrischer Daten durchführen, wobei die Privatsphäre der Kunden und des Personals in höchstem Maße respektiert wird.“ Veesions KI beinhaltet laut eigener Aussage weder Gesichts- oder Emotionserkennung noch die Analyse physiologischer oder physischer Merkmale.
Stattdessen wertet die KI „Bewegungen, Objekte und deren Verhältnis zueinander“ aus, um potenzielle Diebstahlversuche zu erkennen. Dadurch soll ein zu großer Eingriff in die Privatsphäre der Kunden und Kundinnen genauso vermieden werden wie problematische Lernmuster, die zu Diskriminierung etwa aufgrund von ethnischen oder sozialen Merkmalen führen.
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Fehlende Kontrollmöglichkeiten für Verbraucher
Bisher müssen Kunden dem Unternehmen diese Aussage glauben, da es kaum Kontrollmöglichkeiten gibt. Solang nicht bekannt ist, welche Firmen KI-basierte Anti-Diebstahl-Systeme einsetzen, können die Datenschutzbehörden nicht überprüfend eingreifen. Dementsprechend sagte ein Sprecher des Bundesdatenschutzbeauftragten gegenüber Golem: „Dem BfDI ist das genannte System [Veesion] nicht bekannt. Wir haben auch keine Informationen dazu, ob eine Behörde sich bereits mit diesem System auseinandergesetzt hat.“
Da die Anti-Diebstahl-Systeme auf Videoaufnahmen beruhen, müssen Einzelhändler ihre Kunden zumindest über den Einsatz von Überwachungskameras informieren. Was die Speicherung der Aufnahmen angeht, gibt Veesion an, dass sie maximal 30 Tage aufbewahrt werden – außer sie sind für ein Gerichtsverfahren relevant. In der Regel dürfen Videoaufnahmen in Deutschland allerdings nur 72 Stunden gespeichert werden. Wenn Kunden in einem KI-überwachten Laden einkaufen, stimmen sie außerdem stillschweigend zu, dass die KI mit ihren Daten trainiert wird.
Insgesamt können KI-basierte Anti-Diebstahl-Systeme für den Einzelhandel eine wertvolle Unterstützung bei der Prävention von Ladendiebstählen sein – gerade in Zeiten des Personalmangels. Allerdings gehen die smarten Lösungen immer auch mit einem Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Endkunden einher. Unternehmen wie Veesion und Signatrix müssen daher sicherstellen, dass der Einsatz ihrer Systeme verantwortungsvoll erfolgt.