22. Januar 2023, 10:48 Uhr | Lesezeit: 10 Minuten
Stellen Sie sich vor, Amazon schickt Ihnen regelmäßig kostenlose Laptops, Küchengeräte oder Bücher zu, die Sie behalten dürfen. Einzige Voraussetzung: Sie müssen für die Geräte eine Bewertung auf der Online-Plattform schreiben, völlig egal, ob positiv oder negativ. Klingt gut? Genau das machen Mitglieder von Amazons exklusiven Vine Club. Doch wie wird man eigentlich aufgenommen, und gibt es einen Haken? TECHBOOK hat mit Mitgliedern gesprochen und einen Einblick in den geheimnisvollen Club erhalten.
Die Kaufentscheidung vieler Amazon-Kunden hängt von der Bewertung der einzelnen Produkte ab. Laut der Verbraucherzentrale NRW zeigen Studien, dass 80 Prozent der Besucher Rezensionen als „wichtig“ erachten. Wer ein Produkt bei Amazon kauft, kann im Nachhinein einen Erfahrungsbericht schreiben und die Ware mit einem bis fünf Sternen bewerten. Aus allen Sternewertungen ergibt sich ein Durchschnittswert (auch halbe Sterne), der dann neben dem Produkt auftaucht und Interessenten die Kaufentscheidung erleichtern soll. Tausende Nutzer der Handelsplattform betreiben das Rezensieren mittlerweile im größeren Stil, viele haben bereits Hunderte Bewertungen abgegeben. Für besonders fleißige Autoren hat Amazon den Vine Club ins Leben gerufen.
Übersicht
- Zum Amazon Vine Club kann man nur eingeladen werden
- Warum gibt es den Vine Club überhaupt?
- Mitglieder dürfen sich täglich Produkte aussuchen
- Dürfen Mitglieder die Produkte behalten?
- Negative Rezensionen sind selten – aber kein Problem
- Verbraucherschutz kritisierte Vine Club
- Wie Sie ohne den Amazon Vine Club Produkttester werden
Zum Amazon Vine Club kann man nur eingeladen werden
Noch nie vom Amazon Vine Club gehört? Dann geht es Ihnen wie vielen anderen Nutzern. Denn: Mitgliedsanträge gibt es nicht. Amazon wählt sich seine Mitglieder selbst aus, groß beworben wird der Club nicht. Es handelt sich offiziell um einen internen Dienst. Die Teilnahme am Programm ist nach einer Einladung nicht verpflichtend.
Ausschlaggebend, um eingeladen zu werden, ist laut Amazon größtenteils der Rezensentenrang. Dieser setzt sich aus dem Feedback auf Produkttests unter Berücksichtigung der Anzahl zusammen. Daraus ergibt sich eine Rangliste aller Mitglieder, die jemals eine Bewertung geschrieben haben. Je mehr andere Nutzer eine Rezension als hilfreich markieren, desto höher der Rang des Verfassers. Allerdings soll nicht nur der Rang eine Rolle für die Aufnahme in den Club spielen, sondern auch die Art der rezensierten Produkte. Denkbar also, dass Amazon deren Kategorie mit den Produktkategorien der Herstellerpartner im Programm abgleicht. Besteht also ein erhöhter Bedarf für Elektronik-Tests, könnten die Chancen für Elektronikrezensenten besser stehen, aufgenommen zu werden. Amazon selbst verweist auf Anfrage von TECHBOOK lediglich auf die FAQ, die den genauen Auswahlprozess allerdings nicht erklären.
Wer daraus folgert, die bestgerankten Tester würden automatisch eine Einladung in den Vine-Club erhalten, irrt sich. TECHBOOK recherchierte bereits im Jahr 2018 die Daten von sieben Top-100-Rezensenten und hat diese kontaktiert. Von ihnen war nicht nur keiner im Vine Club, sondern drei berichteten, dass sie zu diesem Zeitpunklt bereits seit zwei Jahren auf eine Einladung warteten. Einer antwortete, dass ihm die Auswahl sehr willkürlich erscheine. Gestützt wird diese Aussage auch aktuell noch durch einen erneuten Blick auf die Rangliste. Hier finden sich noch jenseits der 3000er-Ränge Vine-Rezensenten.
Warum gibt es den Vine Club überhaupt?
Laut Amazon ist es das Ziel, vertrauenswürdige Tester als Teilnehmer zu gewinnen, damit diese Produkte bewerten. Clubmitglieder bekommen oft schon vorab Zugang zu ausgewählten neuen Produkten. Auf diese Weise stehen schon zum Erscheinungsdatum erste Bewertungen zur Orientierung bereit. Kaufinteressenten sollen so zusätzliche Informationen über Produkte erhalten und neben den Werbetexten der Hersteller laut Amazon „ehrliche und unbeeinflusste Rückmeldungen“ anderer Käufer erhalten. Die Produkte werden von dem Online-Versandhaus selbst an die Vine-Rezensenten geschickt. Amazon erhält sie wiederum von Verlagen, Studios, Herstellern oder Anbietern, die am Programm teilnehmen. Zu erkennen sind die Rezensionen der Club-Mitglieder an dem grünen Hinweis „Vine Kundenrezension eines kostenfreien Produkts“.
Die genauen Abläufe innerhalb des Amazon Vine Clubs kennen allerdings nur die Mitglieder. Diese ausfindig zu machen ist schwierig. Auf der Handelsplattform herrscht keine Klarnamenpflicht, nahezu jedes Vine-Mitglied tritt nur unter einem Pseudonym und ohne Kontaktdaten auf. Eine Kontaktaufnahme über Amazon ist nicht möglich.
Mitglieder dürfen sich täglich Produkte aussuchen
TECHBOOK hat es Ende 2018 geschafft, drei Mitglieder ausfindig zu machen und sie zum Amazon Vine Club zu befragen. Eine davon ist Claudia C.*, sie war unter den Top 500 der Amazon-Rezensenten und seit mehreren Jahren im Vine Club. Hunderte Produkte hatte die Lehrerin bereits getestet und bewertet, viele davon kamen über den Vine Club zu ihr nach Hause. Tausende Kunden markierten ihre Bewertungen – hauptsächlich zu Haushaltswaren und Büchern – als hilfreich. Bezahlen musste sie die Produkte nie, wie sie TECHBOOK verriet. Von Amazon erhält Claudia eine Auswahl aus ihren angegebenen Interessengebieten. Während sie Bücher bereits direkt über Verlage bezog, bestellte sie über den Vine Club Produkte wie Strumpfhosen, Pfannen oder Staubsauger. Für die ausführlichen Rezensionen der Waren nahm sie sich zwei bis drei Stunden pro Woche Zeit.
Auch Winfried B.* war Vine-Produkttester und hat in den letzten Jahren bereits rund 1500 Produkte rezensiert: „Man hat eine Liste, aus der man sich etwas aussuchen kann, aber nicht muss. Ich darf maximal fünf nicht-rezensierte Artikel gleichzeitig haben, bevor ich neue bestellen kann.“ Das war nicht immer so. Bis vor einigen Jahren gab es einen Tag in der Woche, an dem zu einer festen Zeit alle Vine-Produkte in einem Pool landeten. Dann ging es nach dem Prinzip: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Die besten Artikel waren meist schon nach Sekunden vergriffen.
Klaus S.* ist bereits seit 2008 im Vine-Club. Damals reichten noch wenige Rezensionen aus, um eine Einladung zu bekommen. Klaus durfte sich wie die anderen auch Produkte aussuchen. Einiges hat sich im Laufe der Zeit verändert, wie er TECHBOOK verriet: „Am Anfang gab es noch höherpreisige Produkte, aber an diese komme ich jetzt nicht mehr heran. Ich sehe manchmal, was andere für Produkte bekommen, da staune ich nur.“ Seine angegebenen Interessen werden nicht mehr immer berücksichtigt. So berichtete er, Babynahrung angeboten bekommen zu haben, obwohl er kinderlos war. Nachdem Klaus nicht mehr so viel Mühe wie früher in die Rezensionen steckte, rutschte er in die hinteren 20.000er-Ränge ab.
Dürfen Mitglieder die Produkte behalten?
Wer regelmäßig Produkte von Amazon anfordert und rezensiert, wird den Paketboten schnell gut kennen. Mit der Zeit sammeln sich Dutzende Produkte, teils auch sperrigere Gegenstände bei den Mitgliedern. Da stellt sich natürlich die Frage, was mit den Waren nach der Rezension passiert. Winfried sagte: „Man ist verpflichtet, die Produkte ein halbes Jahr aufzubewahren, kann sie also nicht verscherbeln. Theoretisch kann Amazon sie in diesem Zeitraum zurückverlangen. Praktisch kommt das eigentlich nie vor. Nach der Frist darf ich das Produkt behalten.“ Einen Nebenverdienst durch den Weiterverkauf lassen die Richtlinien des Amazon Vine Clubs nicht zu. Claudia gab sogar einen noch längeren Zeitraum an: „Ich muss sie zwei Jahre behalten und eventuell Fragen dazu beantworten.“ Sie verwendete die Produkte deshalb im Alltag weiter.
Auch ohne den Weiterverkauf ist das Rezensieren aber lohnenswert. Schließlich ersparen sich die Mitglied kostspielige Neuanschaffungen. Aber nicht nur Elektrogeräte wie Laptops, Rasierapparate und TV-Geräte gibt es im Portfolio. Die Viner können je nach Interessengebiet auch aus Verbrauchsgütern wie Cremes, Abschminkpads, Tütensuppen oder Grillsoßen wählen.
Negative Rezensionen sind selten – aber kein Problem
Würden die Mitglieder die Produkte auch negativ bewerten? „Natürlich!“ antwortete Claudia. Ein Blick auf ihr Profil zeigte allerdings auch, dass dies sehr selten vorkommt. Von den letzten 40 Vine-Produkten, die sie im Laufe von rund zehn Monaten rezensierte, erhielten gerade einmal vier weniger als vier Sterne, davon zwei baugleiche Pfannen in einer unterschiedlichen Größe. Weitere Stichproben bei anderen Mitglieder lieferten ein ähnliches Ergebnis.
Amazon arbeitet innerhalb des Vine Clubs mit Unternehmen zusammen, die Waren zur Verfügung stellen. Eine Einflussnahme auf die Vine-Rezensenten gibt es aber natürlich nicht. Dem Unternehmen sind ehrliche Bewertungen wichtig. Das bestätigte auch Claudia: Sie habe nie ein Feedback von Amazon zu ihren Tests erhalten zu haben. Und Winfried erklärte: „Nur wenn Produkte bereits kaputt ankommen, entfällt die Rezensionsverpflichtung. Ansonsten hatte ich noch nie irgendeinen Einflussversuch von Amazon.“
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Verbraucherschutz kritisierte Vine Club
Die Verbraucherzentrale kritisierte den Amazon Vine Club, indem sie den Verdacht äußerte, Bewertungen einzelner Produkte werden von Vine-Rezensenten nach oben korrigiert. Untersuchungen hatten ergeben, dass die Rezensionsspalten bei bestimmten Produkten regelrecht von Vine-Mitgliedern geflutet würden. Diese bewerten überwiegend mit mindestens vier Sternen und verbessern damit in einigen Fällen die Gesamtwertung eines Produkts so sehr, dass die Bewertungen von Nicht-Vinern nahezu negiert würden. „Das System des Clubs, kostenlose Produkte für Rezensionen zur Verfügung zu stellen, ist fragwürdig“, sagte Georg Tryba bei der Verbraucherzentrale NRW damals zu TECHBOOK. Dies gelte vor allem für Produkte, die vor der Markteinführung exklusiv von Vine-Mitgliedern auf Amazon bewertet werden. Sobald der normale Verbraucher bei diesen überhaupt die Möglichkeit hat zu rezensieren, treffe er schon auf eine Reihe – meist positiver – Vine-Tests. Laut Tryba ein „psychologischer Trick“, weil so die Hemmschwelle größer sei, entgegen der Masse zu rezensieren. Amazon wollte sich zu den Vorwürfen der Verbraucherzentrale nicht äußern.
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Wie Sie ohne den Amazon Vine Club Produkttester werden
Eine Einladung zum Amazon Vine Club kommt selbst bei Top-Rezensenten oft nie. Gibt es also Alternativen zum Vine Club? TECHBOOK hatte dazu Tobias befragt. Er wollte nur seinen Vornamen nennen, war seit zwei Jahren unter den Top-100-Rezensenten und hat bis heute keine Einladung erhalten. Die Produkte für seine knapp 200 Rezensionen hatte er jedoch nicht alle selbst gekauft. Seine Alternative: „Ich schreibe nur noch direkt Unternehmen an, bei denen ich weiß, dass diese eine gute Produktqualität bieten und ich das entsprechende Produkt auch benötige.“ Früher sei er auch stärker beim sogenannten „Club der Produkttester“ aktiv gewesen.
„Club der Produkttester“ als Alternative
Der „Club der Produkttester“ ist Heimat für alle, die jenseits des Vine Clubs kostenlose Produkte bewerten wollen. Dort melden sich Interessenten zunächst an und geben ihren Amazon-Profillink an. Der „Club der Produkttester“ überprüft das Profil dann auf Rezensionen und deren Qualität. „Nachdem man beim Club der Produkttester angenommen wurde, sieht man ein Interface von möglichen Produkttests“, erklärt Tobias. „Interessiert man sich für ein Produkt, bewirbt man sich dafür. Dafür reichen zwei Klicks, ein Bewerbungstext kann angegeben werden, muss aber nicht. Bekommt man dann einen Produkttest zugeteilt, muss man diesen innerhalb von 30 Tagen nach dem Erhalt des Produkts veröffentlichen. Maximal kann man drei Tests parallel machen.“ Das System klingt also wie beim Amazon Vine Club. Tobias nahm in letzter Zeit trotzdem Abstand zum „Club der Produkttester“, da dort vor allem im Elektronikbereich seiner Meinung nach nur wenige qualitativ hochwertige Testprodukte angeboten würden. Hier liefere Amazon bessere Geräte.
Firmen direkt anschreiben
Tobias klopft mittlerweile lieber selbst bei den Herstellern an: „Ich schreibe aus eigener Initiative nur Unternehmen an, wo ich stark vermute, dass die Firma Interesse hat, mit Produkttestern zu kooperieren oder weiß, dass sie dies in der Vergangenheit schon getan hat. Eine klassische Situation wäre zum Beispiel auch ein Produktlaunch einer Firma, die auf dem deutschsprachigen Markt noch nicht etabliert ist. Diese Firmen sehen einen großen Vorteil, wenn kurz nach dem Launch gleich professionelle Testberichte online sind.“ Das funktioniert sogar gar nicht mal so schlecht: „Ich habe keine unrealistischen Vorstellungen und wünsche mir von den Unternehmen keine kostenlosen Produkte, die mehrere hundert Euro kosten. Dementsprechend würde ich meinerseits sagen, dass die Quote für erfolgreiche Anfragen bei 25 Prozent liegt.“
Allerdings sollte man die auf diese Weise entstehenden Rezensionen kritisch sehen: Während der Vine Club und der „Club der Produkttester“ auch bei negativen Bewertungen weiterhin Testprodukte zur Verfügung stellen, kann der Hersteller das unterbinden. Hier wirkt die Bereitstellung eher wie ein Gefallen und könnte so manche Tester dazu verleiten, diesen mit einem positiven Test zu erwidern – um in der Gunst der Hersteller nicht zu fallen.
*Name von der Redaktion geändert