27. Juni 2023, 13:28 Uhr | Lesezeit: 8 Minuten
Spätestens seit ChatGPT ist Künstliche Intelligenz aus vielen Berufen und Lebensbereichen nicht mehr wegzudenken. Gleichzeitig trifft man sie immer wieder an Orten an, wo man sie zunächst nicht vermutet hätte – im Schwimmbad beispielsweise. TECHBOOK verrät, wie die KI Schwimmern zukünftig das Leben retten kann.
Das Frei- und Hallenbad Kleinfeldchen bei Wiesbaden hatte in den vergangenen Jahren mit den gleichen Widrigkeiten zu kämpfen wie viele andere Schwimmbäder in Deutschland: Erst die Pandemie, die die Besucher fern hielt, dann die Energiekrise und schließlich der Fachkräftemangel. In den deutschen Bädern fehlen schätzungsweise 3000 Fachkräfte, viele davon ausgebildete Schwimmmeister, die die Badebesucher beaufsichtigen und im Notfall Leben retten. Können sie dieser großen Verantwortung wegen des Personalmangels aber nicht angemessen nachkommen, müssen die Bäder ihre Öffnungszeiten reduzieren. Denn auch unter Aufsicht passieren immer wieder tragische Unfälle. So gab die DLRG bekannt, dass 2022 insgesamt 13 Menschen in Schwimmbädern ertrunken sind. Im Schwimmbad Kleinfeldchen soll ausgerechnet der Einsatz von KI solche Ertrinkungsunfälle künftig verhindern.
Übersicht
Im Notfall zählen wenige Sekunden
Gerade an heißen Tagen und in den Sommerferien strömen zahlreiche Besucher in die Frei- und Hallenbäder. Doch auch dem aufmerksamsten Schwimmmeister kann eine potenzielle Gefahrensituation leicht entgehen. Das Bad Kleinfeldchen kann an einem vollen Tag 4000 bis 6000 Gäste gleichzeitig fassen. Da kann es schon mal unübersichtlich werden. Blicken die Schwimmmeister bei ihren Patrouillen am Beckenrand auch noch schräg auf das Wasser, spiegelt die Oberfläche das Licht oft so stark, dass sie den Grund kaum erkennen. Im Falle einer Wasserrettung können aber schon wenige Sekunden entscheidend sein. Nach drei bis fünf Minuten ohne Sauerstoff erleidet das Gehirn eines Erwachsenen irreversible Schäden. Schwimmmeister müssen einen Notfall also sehr schnell erkennen, um rechtzeitig handeln zu können.
Um die Sicherheit der Badegäste noch besser zu gewährleisten, hat Mattiaqua, der städtische Betreiber des Bades Kleinfeldchen, zu einer ungewöhnlichen Lösung gegriffen: Eine KI soll das Schwimmbad sicherer machen. Seit 2020 überwacht ein sogenanntes Ertrinkungserkennungssystem des Start-ups Lynxight eines der Becken. Der Name Lynxight ist ein Wortspiel aus den englischen Worten lynx sight, zu deutsch Luchsauge. Für die Umsetzung des Systems wurden vier Überwachungskameras an der Decke über dem 25 mal 15 Meter großen Schwimmbecken angebracht. „Die Kameras detektieren die Bewegungen im Wasser und erfassen ein Bewegungsprofil, das von der KI analysiert wird“, erläutert Thomas Baum, der Betriebsleiter der Mattiaqua-Bäder.
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So funktioniert das „Luchsauge“
Um die Privatsphäre der Besucher zu wahren, erkennt die KI nur die Umrisse der Schwimmer und konzentriert sich auf ihre Bewegungen. Entdeckt die KI auffällige Bewegungsmuster, sendet sie einen Ton- und Vibrationsalarm an die Smartwatch der Schwimmmeister. Ein Bild des Pools sowie ein roter Punkt auf dem Display der Uhr zeigen an, wo genau sich der potenzielle Notfall befindet. Zusätzlich präsentiert die KI drei Echtzeit-Fotos, um den Schwimmmeistern die Einschätzung der Lage zu erleichtern.
Diese zusätzliche Überwachungsinstanz erwies sich nach der ersten Testphase als hilfreiche Ergänzung für die Schwimmmeister. Allerdings mussten zuerst einige Kinderkrankheiten überwunden werden. Zu Beginn hatte das System typische, aber unregelmäßige Schwimmbewegungen, wie etwa die Rollwende am Ende einer Bahn, als Notfall angegeben. Doch hier zeigen sich die Stärken der KI: Nach jedem Alarm können die Schwimmmeister per einfachem Daumen-hoch-oder-runter-Klick Feedback geben, ob die Einschätzung des Systems richtig war oder falsch. So kann sich die KI stetig verbessern und Manöver wie die Rollwende als unbedenkliches Bewegungsmuster abspeichern. Neben dem Praxis-Training im Bad Kleinfeldchen lernt die KI auch auf der Basis von bestehenden Daten aus anderen Ländern. Schließlich sind die Bewegungsmuster, die einem Ertrinkungsunfall typischerweise vorausgehen, weltweit gleich.
Plötzliche Erschöpfung, Schwindel, Bewusstlosigkeit oder Kollabieren können auch trainierte Schwimmer treffen, sodass der Einsatz von KI-Systemen bei tiefen Sportbecken sinnvoll ist. Die KI ist daher besonders darauf trainiert, die charakteristischen Auf- und Abbewegungen zu erkennen, wenn ein Schwimmer plötzlich Probleme hat, den Kopf über Wasser zu halten. Ebenso alarmiert die KI bei längerer Regungslosigkeit unter Wasser und wenn sie erkennt, dass sich ein Kleinkind von einer erwachsenen Person entfernt.
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KI-Einsatz soll ausgeweitet werden
Da die Testphase im Frei- und Hallenbad Kleinfeldchen mit sehr überzeugenden Ergebnissen abschloss, möchte Betriebsleiter Thomas Baum nun auch das Außenbecken und den Nichtschwimmer-Bereich mit KI-Systemen ausstatten. Gerade bei unübersichtlichen Bereichen und vulnerablen Gruppen, also Nichtschwimmern und Kindern, soll die KI helfen, mögliche Gefahrensituationen frühzeitig zu erkennen.
Bad Kleinfeldchen und das Start-up aus Israel
Entwickelt hat das Ertrinkungserkennungssystem das israelische Start-up Lynxight. Die beiden Gründer Eyal Amit und Omer Bar-Ilan haben 2019 eine Software entwickelt, die menschliche Bewegungen im Wasser analysiert. Da Wasser als bewegliches und reflektierendes Medium für eine KI relativ schwer zu analysieren ist, muss der Algorithmus diese Störfaktoren erst herausrechnen. Um menschliche Bewegungen besser einzuordnen, lernt die KI außerdem auf Basis von anonymen Videodaten aus anderen Schwimmbädern stetig weiter.
Bisher gab es zwar auch andere Formen der automatischen Ertrinkungserkennung, allerdings waren diese weniger praxisfreundlich. Ein Ansatz setzt auf Unterwasserkameras. Deren Installation und Wartung ist aber teuer und aufwendig, vor allem, wenn die Kameras in bestehenden Schwimmbädern nachgerüstet werden müssen. Ein anderes Konzept arbeitet mit Sensoren in Armbändern, die alle Besucher tragen sollen, ähnlich dem Spintschlüssel. Der Sensor schlägt Alarm, wenn er zu lange unter Wasser ist. Auch hier sind Materialaufwand und Anwendung eher praxisunfreundlich. Lynxight setzt dagegen auf drei simple Komponenten: gewöhnliche Kameras, Smartwatches und WLAN. Alle Elemente lassen sich in den Schwimmbädern einfach nachrüsten, ohne dass jemand aus dem israelischen Team vor Ort sein muss. Auf diese Weise kommt das System von Lynxight mittlerweile in sieben Ländern zum Einsatz.
Bei all den Vorteilen der KI-Überwachung könnte sie in Zukunft zum neuen Sicherheitsstandard in deutschen Schwimmbädern werden –davon ist zumindest Florian Grojer von Lynxight überzeugt. Er vergleicht die aktuelle Situation mit der Luftfahrt vor fünfzig Jahren. Damals hätte man sich schließlich auch nicht vorstellen können, dass der Autopilot einmal zur Standardausstattung gehören würde, und heute sei er nicht mehr wegzudenken.
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KI im Schwimmbad als neue Normalität?
In Zeiten des Fachkräftemangels ist die KI-Überwachung eine hilfreiche Entlastung für die Schwimmmeister – allerdings eine, die auch finanziell ordentlich zu Buche schlägt. Zwischen 30.000 und 40.000 Euro kostet das KI-System – pro Becken. Die Kosten variieren dabei je nach Beckengröße und Anzahl der Kameras. Damit zahlt der Bäderbetreiber für den KI-Assistenten genauso viel wie für eine ausgebildete Vollzeitkraft mit Tarifvertrag. Für Thomas Baum aber lohnt sich die Rechnung dennoch: „Wenn es nur ein Mal in zehn Jahren funktioniert und ein Menschenleben rettet, dann war jeder investierte Cent es wert.“ Erst im Mai 2023 ereignete sich in Bad Kleinfeldchen ein tragischer Unfall, bei dem ein 14-jähriger Junge beim Schulschwimmen ums Leben kam. Anders als das Becken in der öffentlichen Schwimmhalle war die Trainingshalle nicht mit dem KI-Überwachungssystem ausgestattet.
Der Grund, weshalb solche KI-Systeme noch nicht stärker verbreitet sind, liegt einerseits an den Finanzierungsproblemen, die viele Bäder ohnehin schon haben. Andererseits haben einige Bäderbetreiber noch Zweifel an den Sicherheitsstandards, die sie für noch nicht ausreichend ausgereift halten. Dennoch dient das Frei- und Hallenbad Kleinfeldchen auch anderen Bädern als Vorbild. Die Stadtwerke München haben in Zusammenarbeit mit Lynxight im Südbad ebenfalls eine zweijährige Testphase „Smartes Schwimmbad“ gestartet. Die ersten Erfahrungen sind sehr positiv. Allerdings muss die KI hier noch lernen, potenzielle Notfälle vom „Toten Mann“ zu unterscheiden. Bei dieser Schwimmübung treiben Schwimmer an der Wasseroberfläche auf dem Rücken und gerade bei Sonnenbadern ist das Manöver beliebt. Auch im Freizeit-Kombibad CabrioLi in Lippstadt läuft eine KI-Testphase und das Nordbad von Darmstadt plant ebenfalls den Einsatz von KI-Systemen.
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Und was ist mit dem Datenschutz?
Die Transparenz, mit der die Bäder über die KI-Überwachung aufklären und auf sie hinweisen, fällt sehr unterschiedlich aus. Gleiches gilt für den Umgang mit dem Videomaterial. Während die KI in München die Bilder in Echtzeit verarbeitet und keine Aufnahmen von den Besuchern macht, speichert der Betreiber von Kleinfeldchen die Aufnahmen für eine bestimmte Zeit. Sollte es einmal zu einem Notfall kommen, möchten man die Aufnahmen hinterher analysieren können. Davon abgesehen versichert Thomas Baum aber, dass die Daten sicher und DSGVO-konform gespeichert werden.
Angesichts der positiven Erfahrungen könnte es also gut sein, dass zukünftig in immer mehr Schwimmbädern KI-Systeme die Schwimmmeister unterstützen. Bedroht werden die Stellen der Schwimmmeister durch die Ertrinkungserkennungsysteme aber nicht. Schließlich kann die KI weder ins Wasser springen, noch verunfallte Schwimmer bergen.