7. Juni 2023, 14:03 Uhr | Lesezeit: 8 Minuten
Nach wie vor sind Frauen in der Tech-Welt deutlich unterrepräsentiert, vor allem im Führungsbereich. TECHBOOK hat mit Gründerin Güncem Campagna über die Gründe gesprochen und wie man mehr Frauen in die Branche holen könnte.
Güncem Campagna ist Gründerin sowie Geschäftsführerin der gemeinnützigen „tech and teach gGmbH“ in Düsseldorf und 1. Vorsitzende des „Women in Tech e.V.“. Mit ihrer Arbeit will Campagna helfen, die Möglichkeiten für Frauen, Tech-Berufe zu ergreifen, deutlich zu verbessern. Im Interview mit TECHBOOK lässt die 49-Jährige ihren eigenen Karriereweg Revue passieren, berichtet von den Widrigkeiten, auf die Frauen auch heute noch stoßen, und erklärt, warum es in anderen europäischen Ländern besser läuft als in Deutschland.
Interview mit „tech and teach“-Gründerin Güncem Campagna
TECHBOOK: Frau Campagna, Sie sind Gründerin sowie Geschäftsführerin der gemeinnützigen „tech and teach gGmbH‘. Wofür steht dieses Unternehmen?
Güncem Campagna: „tech and teach“ ist ein sehr breit gefasstes Bildungsangebot zu technologischen Themen für Kinder, Jugendliche, Lehrkräfte, aber auch Erwachsene, die sich weiterbilden oder umorientieren möchten. Gleichzeitig bin ich erste Vorsitzende des „Women in Tech e.V.“, der es sich für den deutschsprachigen Raum zur Aufgabe gemacht hat, Frauen in technologischen Berufen miteinander zu vernetzen und mögliche Einsteiger zu entsprechenden Berufsmöglichkeiten zu beraten.
Heute ist ein gewisses Maß an Verständnis der neuen Technologien unabdingbar. Welchen Einfluss hatte „Tech“ auf Ihre Berufsplanung?
Zunächst gar keine, mein Karriereweg war ganz anders geplant. Ich habe Volkswirtschaftslehre studiert, um zu verstehen, wie die Wirtschaft als Ganzes funktioniert. Mein Herz aber hat immer dem Marketing gehört, sodass ich schließlich bei einem großen Konzern im internationalen Automobil-Marketing gelandet bin. Leider musste ich bald feststellen, dass ich immer wieder an Grenzen gestoßen bin, weil in Konzernen viele Strukturen sehr statisch sind. Ich bin von meiner Persönlichkeitsstruktur her aber eine Macherin, sodass ich mich 2014 aus der Konzernwelt verabschiedet habe. Ein ganzes Jahr lang war ich dann arbeitssuchend und musste erkennen, dass ich plötzlich abgehängt war, weil sich die Welt immer schneller in Richtung Digitalisierung bewegt hat.
Gab es so etwas wie ein Aha-Erlebnis?
Ja. Immer wenn ich mir die Stellenanzeigen anschaute, enthielten die so viele Begrifflichkeiten aus der digitalen Welt, die ich nicht verstanden habe, dass das für mich ein regelrechter Schock war. Ich habe dann aber schnell alles dafür getan, mir in Eigenregie die digitalen Skills anzueignen, und habe zum Beispiel sehr viele Veranstaltungen zu digitalen Themen besucht. Plötzlich habe ich erkannt, wie gut es mir gelingt, die Verbindung zwischen diesen beiden Welten, der Welt des klassischen Business‘ und Marketings auf der einen und der digitalen Welt auf der anderen Seite, herzustellen.
Hatten Sie konkrete Vorbilder?
Nein, zumindest gab es keine bestimmte Person. Für mich waren die Wirtschaft und das Marketing die Bereiche, zu denen es mich hingezogen hat. In diesem Sinne könnte man also vielleicht Ökonomie und Werbung als meine Vorbilder bezeichnen.
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Werdegang in der Tech-Branche
Wie ging es dann weiter?
Irgendwann fand ich mich als Beraterin für Startups wieder, und mir ist erstmals aufgefallen, dass es in dieser Startup-Welt und in den entsprechenden technologischen Berufen nur sehr wenige Frauen gibt. Das hat mich damals sehr geärgert. Die Digitalisierung hat immer größeren Einfluss auf unser Leben, auf Gesundheit, Kommunikation etc. genommen, die Frauen aber haben nicht partizipiert. Deshalb habe ich begonnen, Workshops zu digitalen Themen nur für Frauen zu geben und entsprechende Geschäftsmodelle zu entwickeln. Leider waren diese Workshops nicht sehr gut besucht – was nach meiner Erfahrung gerade auch daran lag, dass sich jemand, der schon als Mädchen das Interesse an solchen Themen verloren hatte, sich später auch als Frau nicht dafür begeistern konnte.
War mit dieser Erkenntnis der Grundstein für „tech and teach“ gelegt?
In gewisser Weise, ja. Denn 2016 habe ich den ersten Workshop für Mädchen im Bereich Programmierung angeboten, und von da an haben die Dinge ihren Lauf genommen. 2020 wurde „tech and teach“ als Initiative gegründet und 2021 schließlich in „tech and teach gGmbh“ umfirmiert.
Hat sich seitdem auf breiter Basis etwas geändert? Gibt es mehr Frauen in technischen Studiengängen und in technischen Berufen?
Ich wünschte wirklich, ich könnte „Ja“ sagen. Aber das gibt die aktuelle Situation nicht her. Was sich tatsächlich geändert hat ist, dass es deutlich mehr Initiativen, sowohl von öffentlicher als auch von privater oder zivilgesellschaftlicher Hand organisiert, für Frauen gibt. Die Zahlen aber, die Aufschluss über Frauen in Tech-Berufen oder über Startup-Gründungen von Frauen geben, bewegen sich noch immer kaum.
Hoffnungsvoll stimmt mich aber, dass mittlerweile zumindest erkannt worden ist, dass die Reise ins Tech-Land schon ganz früh, in der Schule, beginnen muss. Hier liegt allerdings das große Problem in Deutschland. Es fehlt dramatisch an Lehrkräften, besonders schlecht sieht es in Informatik aus, das kein Pflichtfach ist. Zwar stellt man gerade die Weichen für die Zukunft, aber wir werden wohl erst in zehn oder sogar mehr Jahren wissen, ob sich dadurch bis dahin wirklich etwas geändert haben wird.
„In bestimmten Situationen habe ich diese Voreingenommenheit gespürt“
Wie war das bei Ihnen persönlich? Hat man Sie ernst genommen, als Sie sich in Sachen Tech selbstständig gemacht haben?
Ich glaube, dass man mich anfangs belächelt hat. Mir hat zwar niemand ins Gesicht gesagt „Du kannst das nicht, ich traue dir das nicht zu“. Aber in bestimmten Situationen habe ich diese Voreingenommenheit gespürt. Wenn man zum Beispiel in einer größeren Runde zusammengestanden hat, haben sich die Männer angeregt unterhalten und jeder hat Interesse gezeigt für die angesprochenen Projekte. Wenn ich aber erzählt habe von meinen Plänen, hat man bestenfalls gesagt „Okay, Güncem, schön, interessant“. Aber das war’s dann auch schon.
Man hat mich einfach nicht ernst genommen und vor allem das Business-Potenzial des Ganzen nicht erkannt. Den sozialen Charakter, den hat man gesehen, denn „Frauen stehen für soziale Berufe“, wie man gesagt hat. Oft war ich in einer solchen Runde die einzige Frau, was das Ganze noch enttäuschender gemacht hat.
Wie ist das heute, fühlt es sich immer noch nach Missionsarbeit an?
Zumindest bin ich im Tech-Bereich beinahe immer noch ein Einzelfall. Wenn Frauen ein Start-up gründen, dann in der Regel in Bereichen wie Food, Lifestyle oder Soziales. Wenn es aber um Künstliche Intelligenz, Blockchain etc. geht, dann sind Frauen nach wie vor ganz rar gesät.
Mit „tech and teach“ möchten Sie das ändern; von welchen Zahlen sprechen wir?
Lassen Sie mich zunächst erwähnen, dass sich unsere Zahlen bisher jedes Jahr fast verdoppelt haben. Ein Grund dafür ist, dass wir mittlerweile Partner der Vodafone-Stiftung sind, das hat noch mal einen ganz großen Boost gegeben. Was nun die Zahlen betrifft, da lagen wir im vergangenen Jahr bei rund 10.000 Personen, die unsere Bildungsangebote in Anspruch genommen haben. Für dieses Jahr rechnen wir mit 13.000 bis 14.000 Teilnehmer*innen. Bei aller Freude darüber, darf man aber nicht außer Acht lassen, dass wir zwar Impulse und Inspiration liefern, die Menschen aber nicht bis zur letztendlichen Berufswahl begleiten.
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Situation in Deutschland
In Deutschland herrscht gerade auch bei technischen Berufen großer Fachkräftemangel. Trauen Sie Frauen zu, hier eine Ressource sein zu können?
Auf jeden Fall! Es gibt ein Strategiepapier der Bundesregierung zu dem Thema, welche Ressourcen angezapft werden müssen, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Da sind Frauen einer der wichtigsten Faktoren. Noch aber arbeiten bei uns so viele Frauen in Teilzeit, wie in fast keinem anderen europäischen Land. Weil diese Frauen keine Betreuungsmöglichkeiten für ihre Kinder bekommen, verfällt potenzielle Arbeitszeit und diese Ressource wird nicht ausgeschöpft. Hier, bei den Möglichkeiten für Betreuung oder auch Pflege, muss die Politik Lösungen finden.
Warum läuft es in vielen anderen europäischen Staaten so viel besser?
Besonders in den ehemaligen Ostblockländern beziehungsweise den baltischen Staaten sind die Quoten wesentlich höher als bei uns. Denn dort sind Tech-Berufe Jobs wie jeder andere – auch für Frauen. Was nicht zuletzt daran liegt, dass die Hürden für ein technisches Studium, etwa Ingenieurswesen, lange nicht so hoch sind wie hier.
Zu guter Letzt: Was würden Sie jungen Frauen heute raten, die sich vielleicht für einen Tech-Beruf interessieren, aber nicht wissen, wie sie das Ganze angehen sollen?
Der größte Fehler ist, etwas nicht infrage zu stellen und zu denken, mein Weg wäre vorgezeichnet. Und auf keinen Fall darf ich mich ausschließlich auf die klassischen Berufsinformationsangebote verlassen. Dort werden häufig noch Berufe vorgestellt, die es in ein paar Jahren schon nicht mehr geben wird. Diese Beratungsstellen haben mit der Schnelligkeit der Digitalisierung einfach nicht mitgehalten.
Vielmehr muss ich wirklich in mich hineinhorchen, welche Interessen ich habe. Wenn dann ein Tech-Beruf noch infrage kommt, würde ich versuchen, zunächst eine Reihe von Praktika zu absolvieren. Dann sehe ich, ob mir der entsprechende Beruf auch in der Praxis gefallen könnte. Ich sollte mein Schicksal also selbst in die Hand nehmen und mich trauen, den ersten Schritt zu machen.