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Meinung zur WWDC

Hey Apple, es ist 2020 und nicht 2008!

Tim Cook eröffnet die Worldwide Developers Conference
Die diesjährige Worldwide Developers Conference fand komplett online statt Foto: Getty Images
Adrian Mühlroth
Redakteur

23. Juni 2020, 16:22 Uhr | Lesezeit: 9 Minuten

Android und iOS: Hier und da wird mal von dem jeweils anderen abgekupfert, und das ist nichts schlimmes. Mit iOS 14 geht Apple laut unseres Redakteurs Adrian Mühlroth aber einen Schritt zu weit. Das sind die Gründe!

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Eins muss man Apple lassen: Das Unternehmen hat wirklich verstanden, wie man sich selbst und die eigenen Leistungen darstellen muss. Die WWDC 2020 war Coronavirus-bedingt ein komplett vorweg aufgenommenes Online-Event ohne Publikum – und doch die beste Apple-Entwicklerkonferenz, die ich je gesehen habe. Futuristisch, ohne albernes Jubeln durch Apple-Angestellte und wirklich, wirklich gut gedreht. Auch wenn dieses Jahr keine überraschenden Hardware-Enthüllungen auf der WWDC waren, softwareseitig hat sich einiges getan. Apple geht sogar so weit und schreibt über sich selbst: „Apple konzipiert das iPhone-Erlebnis neu mit iOS 14.“ „Neu“ ist anscheinend ein sehr dehnbarer Begriff, denn an was mich iOS 14 am meisten erinnert ist Android. Besser gesagt: Android von vor zehn Jahren.

Okay, ich verstehe ja, dass iOS und Android zwei sehr ausgereifte Betriebssysteme sind. Große, neue Funktionen gibt es kaum noch bei einer neuen Systemversion, stattdessen wird oft im Detail verbessert. Hier und da wird mal von dem jeweils anderen abgekupfert, und das ist nichts schlimmes, schließlich verbessert es das Benutzungserlebnis des Käufers. Doch mit iOS 14 geht Apple meines Erachtens einen Schritt zu weit. Als jahrelangem Android- (und iPhone-) Nutzer ist mir schleierhaft, wie Apple Widgets, App-Übersicht und vieles anderes, das es bei Android seit Ewigkeiten gibt, als neu verkaufen will.

Zurück in die Zukunft: Apple-Edition

Bislang kannte iOS nur Widgets in der Heute-Übersicht, die sich links vom Homescreen befindet. Widgets sind kleine Fenster, die Informationen wie das Wetter, Fitness-Tracking und den Kalender in einer Übersicht zeigen und Direktzugriff für bestimmt Dinge wie Musiksteuerung geben. Mit iOS 14 können diese und mehr Widgets nun frei auf dem Homescreen platziert werden. Dazu ein kleiner Exkurs: Android ist bereits 2008, vor zwölf Jahren, mit Widgets gestartet. Früher waren Widgets eines der Hauptverkaufsargumente für ein Android-Smartphone. Widgets waren prominent platziert, direkt neben der App-Übersicht gab es einen Tab für die Widget-Übersicht. Jeder Entwickler, der etwas auf sich hielt, musste zusätzlich zur App auch ein Widget anbieten.

Nach und nach haben Widgets aber ihre Attraktivität verloren. Oft sind sie zu klobig, zu wenig genutzt, immer mehr wird über die praktischere Benachrichtigungsleiste gesteuert. Google hat sie deswegen mit jeder Android-Version weiter in den Hintergrund gedrängt. Widgets auf dem Sperrbildschirm, die eine Zeit lang als revolutionär gehandelt wurden, sind mittlerweile komplett aus Android verschwunden. Klassische Widgets existieren weiterhin, allerdings fristen sie ein Nischendasein und sind nur noch ein Schatten ihres früheren Selbst. Neuere Apps bekommen oft gar kein Widget mehr. Ich selbst war früher ebenfalls ein Verfechter der Widgets und habe mich nicht zu wenig aufgeregt, als sie plötzlich aus ihrer gleichrangigen Position neben der App-Übersicht verschwanden. Doch auf meinem aktuellen Android-Gerät habe ich genau zwei Widgets, von denen eins auf der letzten Seite meines Homescreens vor sich hin schmort. Das andere ist praktisch nur ein Schnellzugriff auf die Google-Fit-App. Es nimmt sehr viel Platz ein, aber so ganz kann ich mich noch nicht davon trennen.

Es gibt einen ellenlangen Thread auf Reddit, in dem darüber diskutiert wird, ob Android-Widgets noch eine Zukunft haben. Für den Untergang sprechen viele Dinge. Wie etwa die Tatsache, dass eine Vielzahl der Funktionen nun in andere Bereiche wie den Google Assistant und die Benachrichtigungsleiste integriert wurde. Android-Entwickler schreiben zudem, dass Widgets schwer zu programmieren sind und oft von Akkusparmaßnahmen in Android selbst ausgebremst werden.

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Widgets schaffen es in iOS? Wer hätte das gedacht? | Foto: Apple

Diese Probleme wird iOS sicher umgehen können, doch für mich bleibt die Frage: Wie will Apple Widgets jetzt noch attraktiv machen? Jetzt, nach zwölf Jahren Android-Erfahrung, in denen sich herausgestellt hat, dass es andere, besser Wege gibt Widget-Inhalte darzustellen und zu steuern. Immerhin gibt es einen Punkt, in dem Apple in puncto Widgets eine Innovation liefert. Die Funktion, „Smart Stack Widget“ genannt, zeigt unterschiedliche Widgets im Laufe des Tages an, basierend auf Ihren persönlichen Aktivitäten. Morgens etwa der Kalender und dann die News und später einen Musikplayer oder Workout-Tracker.

Doch selbst wenn Apple damit mit Android aufschließt, ist es immer noch nicht möglich, ein Widget – oder ein App, wenn wir dabei sind – einfach unten zu platzieren. Beide Elemente haften nach wie vor am oberen Rand. Ein paar Apps oben und ein Widget unten zu haben, ist also auch in iOS 14 nicht möglich. Hier hinkt iOS weiterhin – und völlig unnötig – Android hinterher.

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Neu in iOS, alt in Android: App-Übersicht, Bild-in-Bild, etc.

Wenn Widgets der einzige Punkt wären, in dem iOS 14 versucht, wie Android zu sein, könnte ich ein Auge zudrücken. Aber die Liste der neuen Funktionen liest sich wie eine Versions-Historie der verschiedenen Android-Updates, die uns über die Jahre erreicht haben.

App Library

iOS 14 fügt eine App Library hinzu – eine App-Übersicht, die Apps nach bestimmten Kategorien ordnet, wie etwa „kürzlich hinzugefügt“, „Vorschläge“, „Social“ und „Unterhaltung“. Das vereinfacht die Übersicht über Apps, anstatt durch mehrere Homescreen-Seiten scrollen zu müssen, um irgendwann bei richtigen App herauszukommen. Android kennt dieses System von Anfang an. Schon vor zwölf Jahren wurde zwischen App Drawer, also einer Übersicht über alle Apps, und dem Homescreen unterschieden, auf dem Apps und Widgets nach Belieben platziert werden können. Diese Funktion vermisse ich bei iOS seit Jahren, mein Homescreen ist völlig überfüllt mit Apps und ich benutze mittlerweile die Suche, um eine bestimmte App zu finden. In iOS 14 können Homescreen-Seiten mit Apps, die man nicht benutzt, nun einfach entfernt werden – zwölf Jahre nach Android.

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iOS 14 bekommt erstmals eine App-Übersicht | Foto: Apple

Bild-in-Bild-Video

Zugegeben, diese Funktion ist auch bei Android noch nicht von Anfang an dabei, doch seit Android 8 Oreo (nun auch schon drei Jahre alt) ist sie Standard auf jedem Android-Gerät. Die Rede ist von der Bild-in-Bild-Funktion, die es ermöglicht, ein Video in einem kleinen Fester abzuspielen, das frei bewegbar ist und über andere Apps gelegt werden kann. Ich selbst nutze die Funktion nicht oft, aber es ist gut, diese Möglichkeit zu haben. Nun dürfen auch iPhone-Nutzer endlich einmal ein Video abspielen und nebenbei etwas anderes machen. Zum Beispiel eine Arbeits-Email schreiben.

Siri kommt auf den Punkt

In iOS 14 nimmt Siri nicht mehr den gesamten Bildschirm ein, sondern taucht nur noch als kleiner Punkt am unteren Bildschirmrand auf. Wird eine Antwort gezeigt, erscheint diese in einer kleinen Karte über dem gerade geöffneten Inhalt. Das kennen wir bereits von dem Google Assistant, der ebenfalls sehr dezent in seiner Ecke bleibt.

Die Liste geht weiter

Mit der neuen Android-, äh, iOS-Version kommen noch ein paar kleinere Funktionen, die ich zu den alten Bekannten zähle. in iOS 14 wird es endlich die Möglichkeit geben, die Standard-App für E-Mails und den Browser zu wechseln. Das ist bei Android schon seit Jahren Realität und bei iOS mehr als überfällig. Selbst die neue Übersetzungsfunktion, die in Echtzeit von einer in die andere Sprache übersetzen kann, ist etwas, das Google mit Google Translate schon seit Jahren auf dem Markt hat.

iOS 14 Echtzeit-Übersetzer
Der neue Echtzeit-Übersetzer in iOS 14 erinnert stark an eine bereits etablierte Übersetzer-App | Foto: Apple Foto: Apple

Was ist denn nun eigentlich wirklich neu in iOS 14?

Spaß (und Kritik) beiseite, iOS 14 ist auch nicht komplett ohne eigene Innovationen. In der Nachrichten-App können Chats nun nach oben gepinnt und in Gruppen-Chats Antworten als Thread dargestellt werden. Wie in Slack ist nun einstellbar, dass Benachrichtigungen über neue Nachrichten in Gruppen-Chats nur erscheinen, wenn der eigene Name genannt wird. Siri soll klüger geworden sein und nun auch Suchergebnisse aus dem Internet besser interpretieren und als Antwort geben können. Das ist bei Sprachassistenten, auch bei dem von Google, stets ein wunder Punkt gewesen. Wenn Apple hier einen Unterschied machen kann, werte ich das als großen Fortschritt.

Auch neu ist, dass das iPhone mit iOS 14 als Autoschlüssel für kompatible Fahrzeuge nutzbar sein wird. Als erstes ist BMW mit von der Partie, der Autoschlüssel erscheint einfach als Karte in der Apple Wallet und kann sogar ausgeliehen werden. Besonders zukunftsweisend ist die EV-Option in Apple Maps, die eine Strecke danach plant, wo elektrische KFZ geladen werden können. Futuristisch ist auch ein ebenso einfaches wie geniales Feature für AirPods-Nutzer, die iPhone und iPad haben: Mit iOS 14 und iPadOS 14 schalten die AirPods nun automatisch um, wenn Sie zwischen iPhone und iPad wechseln – das kann nur das Apple-Ökosystem.

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Wir brauchen wieder Innovation

Nur zur Info: Ich bin keineswegs der Meinung, dass Android das perfekte Betriebssystem ist. Zu viele Probleme gibt es beim Datenschutz und Googles doch sehr invasiven Art – Dinge, die Apple meines Erachtens deutlich besser behandelt. Doch wenn Apple schreibt: „Apple konzipiert das iPhone-Erlebnis neu mit iOS 14“, meint es dann, das Erlebnis wird so konzipiert, wie es bei Android schon lange ist? Denn wenn das die Vorstellung von „neu“ ist, sorry, Apple – andere haben das schon viel früher gemacht. Funktionen wie Widgets, App Library und Bild-in-Bild als innovativ darzustellen, finde ich völlig überzogen. Eine andere Geschichte wäre es, wenn es andere, zentrale Neuerungen geben würde, die den Rest überschatten. Aber diese bleiben leider aus. Von einem Unternehmen, das erst vor kurzem als erstes der Welt einen Marktwert von 1,5 Billionen US-Dollar erreicht hat, erwarte ich einfach mehr als nur recycelte und minimal angepasste Ideen.

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