22. Januar 2023, 9:04 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten
Wenn das Telefon klingelt, schauen viele Menschen fast schon ängstlich aufs Display. Dagegen scheinen Messenger-Dienste das bevorzugte Kommunikationsmedium geworden zu sein. Woran liegt das? TECHBOOK geht der Sache auf den Grund.
Schauspielerin Jennifer Aniston hat erst vor wenigen Tagen einen „Hack“ proklamiert, der zu mehr Zufriedenheit verhelfen könne – TECHBOOK berichtete. Man solle demnach einfach das Telefon in die Hand nehmen und anrufen, wenn man spontan an einen Freund oder Bekannten denkt. Hinter der scheinbar revolutionären Idee steckte angeblich die Forschung eines Psychologen. Ist doch irgendwie bemerkenswert: Früher hätte man sich nicht erst mit einem Wellbeing-Gedanken dazu motivieren müssen, jemanden anzurufen. Es scheint etwas zu geben, das zunehmend Angst vorm Telefonieren macht, oder zumindest einen gewissen Unwillen dazu begründet. Was steckt dahinter?
Übersicht
Die Menschen haben gefühlt ständig ihr Telefon in der Hand – sicherlich sehr häufig, um via WhatsApp und Co. zu kommunizieren. Hier hat man die Möglichkeit, Text- oder Sprachnachrichten zu senden. Das klassische Telefonieren scheint aus der Mode gekommen zu sein.
Bedenkzeit vorm Antworten
Geht es vielleicht darum, nicht unmittelbar reagieren zu müssen? Hätte man jemanden am anderen Ende der Leitung, der etwa eine Frage stellt, müsste man natürlich recht zeitnah antworten. Beim einem Messenger dagegen kann man sich etwas mehr Bedenkzeit herausnehmen. Dabei helfen weiterhin verschiedene Funktionen – etwa das Ausschalten des blauen Hakens bei WhatsApp, mit dem sich der Zeitpunkt vertuschen lässt, wann eine Nachricht gelesen wurde. Inzwischen lässt sich ja sogar der Online-Status verbergen. Wenn also etwa jemand etwas will, das dem anderen gerade unbequem ist, kann dieser sich nun in aller Ruhe eine plausible Ausrede einfallen lassen.
Nachrichten zu versenden, scheint „sozial adäquater“
TECHBOOK hat bei Psychologen und -therapeuten* nachgefragt. Auch sie sehen in diesem „Vorteilsaspekt“, mit dem Antworten auf eine Nachricht kurz warten zu können, eine besondere Bedeutung für den Trend weg von persönlichen Anrufen. Demnach leben wir in einer Zeit, in der die Währung der Aufmerksamkeit extrem kostbar geworden ist. Es gehe dabei nicht nur unbedingt darum, selbst Zeit gewinnen. Vielmehr könne das Versenden von Nachrichten vom Gegenüber als „sozial adäquater“ aufgefasst werden, denn es sei weniger unter Druck setzend. Schließlich weiß jener, der die Nachricht schickt, dass er dem anderen nicht abverlangt, sofort und ohne Wahlmöglichkeit zu reagieren.
Multitasking ist beim Telefonieren schwieriger
Die meisten von uns sind mediale Multitasker – ob nun aus der Überzeugung, die vorhandene Zeit möglichst effizient zu nutzen, oder weil wir es einfach gewöhnt sind, beispielsweise parallel zum Filmschauen eine Zugfahrt zu buchen oder auf dem Smartphone zu zocken. Denn alles geht gleichzeitig, in vielen Fällen bereichert die Nutzung des Smartphones sogar das Erlebnis. Während man sich etwa mit dem TV-Programm befasst, kann man Hintergrundinformationen zu den Protagonisten abrufen oder auch die Antworten von Quiz-Fragen ermitteln.
Medienwissenschaftler beobachten diesen Trend und seine Folgen schon lange. „Der Second Screen, das Smartphone, ist eigentlich zum dauerhaft genutzten First Screen geworden“, erklärt bereits 2017 Prof. Jens Müller von der Business and Information Technology School (BiTS) in Iserlohn.
Parallel zum beispielsweise Fernsehen texten? Kein Problem. Etwas anders wäre es beim Telefonieren. Denn dabei wären sowohl die Aufmerksamkeit des Gegenübers als auch die eigene zeitlich gebunden – man kann schwer gleichzeitig telefonieren und dabei z. B. die aktuellen Nachrichten verfolgen. Oder man könnte es versuchen, das wäre aber nicht sehr höflich und würde mit Sicherheit auffallen.
Der Alltag kann sprechfaul machen
Für viele Menschen ist Medien-Multitasking nicht nur im Privaten, also etwa wenn sie abends endlich auf der Couch liegen, gang und gebe. Auch bei der Arbeit müssen sie beispielsweise am Bildschirm arbeiten und dort gegebenenfalls Meetings abhalten, zwischendurch via Smartphone und daneben auch offline mit Kollegen kommunizieren. Kaum überraschend, wenn dann abends die Lust fehlt, zu sprechen. Das kennt wahrscheinlich jeder, und ist natürlich auch nach einem diskussionsreichen Nachmittag mit der Familie denkbar.
Echte „Angst“ vorm Telefonieren
Der Begriff „Angst“ wurde in diesem Beitrag bisher etwas umgangssprachlich und überspitzt verwendet. So gibt es neben den Menschen, die sehr ungern telefonieren, auch solche, die sich wirklich dafür fürchten. Und je länger sie den Griff zum Hörer vermieden haben, desto größer wird die Angst. Diese kann im Alltag belastend sein oder gar den Job gefährden bzw. die Chancen auf eine Anstellung verbauen.
Verschiedene Maßnahmen können dabei helfen, die Scheu vorm Telefonieren zu verlieren. Es mag die ersten Male hart sein, doch Übung macht den Meister. Mit jedem erfolgreichen Anruf wird sich die vorangegangene Angst als weniger begründet erweisen.
- Atmen Sie vor dem Gespräch ruhig durch und räuspern sich.
- Gehen Sie den Inhalt des geplanten Gesprächs durch. Was wollen Sie anbieten? Worauf zieht Ihr Anruf ab? Bietet er dem Angerufenen einen Mehrwert? Welchen?
- Machen Sie sich Notizen. Auf welchen Punkt können Sie eingehen, sollten Sie den Faden verloren haben?
- Planen Sie den Einstiegsatz. Gerade in Berufen, in denen viel telefoniert wird, kann eine feste Begrüßungsformel sinnvoll (nicht nur gegen Ihre Unsicherheit) sein.
- Stellen Sie Fragen. So gewinnen Sie immer ein wenig Verschnauf- oder Nachdenkpause.
Tipps von Experten Angst vorm Telefonieren? Das können Sie tun
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Symptom der sozialen Phobie
Bei manchen Menschen liegt die Ursache für die Angst vorm Telefonieren tiefer. Sie leiden an einer sozialen Phobie, die mit der Angst vor der kritischen Beurteilung durch andere einhergeht und scheuen es daher grundlegend, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen. Dabei ist die Angst vorm Telefonieren, auch wenn sie umgangssprachlich immer öfter als Telefon-Phobie bezeichnet wird, bisher kein klinischer Befund. Allgemeine Angststörungen dagegen betreffen laut der Gesundheitsberichterstattung des Bundes (GBE) rund drei Prozent der Bevölkerung. Liegt bei Ihnen eine Angststörung vor, könnte es sinnvoll sein, dass Problem in seiner Gesamtheit zu behandeln. Neben der Lektüre von Selbsthilfebüchern empfiehlt sich je nach Schwere der Beschwerden die Aufnahme einer Gesprächs- und Verhaltenstherapie.
* Die Experten möchten aus Respekt vor ihren Patienten nicht namentlich genannt werden.