6. Juni 2024, 6:47 Uhr | Lesezeit: 7 Minuten
Auf 40 Jahre Erfolgsgeschichte kann das Kult-Spiel Tetris mittlerweile zurückblicken. Doch dabei lief nicht immer alles glatt, im Gegenteil. Zeitweise erinnert das Ringen um Tetris an einen Wirtschaftskrimi.
Manche lieben es, andere verzweifeln daran, aber jeder kennt es: Tetris. Mit circa 500 Millionen Verkäufen in all seinen verschiedenen Versionen gehört das Game zu den weltweit am häufigsten verkauften Computerspielen. Der Begriff Computerspiel ist hierbei im weiteren Sinne zu verstehen, denn seinen großen Aufstieg zum Erfolg erlebte Tetris in den 1990er Jahren mit Nintendos Game Boy. Seitdem gilt das Kult-Spiel als Mutter der Casual Games und unterhält zahllose Spielerinnen und Spieler – sogar im Weltall. Doch reich ist Tetris-Erfinder Alexei Paschitnow zunächst nicht geworden. Anlässlich des 40. Jubiläums wirft TECHBOOK einen Blick auf die bewegte Geschichte des Spiele-Klassikers.
Übersicht
Ein Spiel, das man nicht gewinnen kann
Das Konzept von Tetris ist selbsterklärend: Die kleinen Bausteine, die vom oberen Spielfeldrand fallen, müssen möglichst effizient angeordnet werden. Eine vollständige Reihe löst sich auf, doch türmen sich die Klötzchen bis zum oberen Rand, hat man verloren. Der Verzicht auf erzählerische Elemente, kulturelle Referenzen und komplexe Lernleistungen machen das Spiel weltweit zugänglich und über viele Altersstufen beliebt. Und das, obwohl man Tetris eigentlich nicht gewinnen kann, was die Geduld der Spielenden auf eine schwere Probe stellt. Die immer schneller werdende Dudelmusik erhöht das Stressniveau zusätzlich. Aber auch das gehört zu Tetris.
Man benötigt schon eine außergewöhnliche Fingerfertigkeit, um Tetris zu besiegen. Doch genau das gelang Ende 2023 dem 13-jährigen Willis Gibson, wie TECHBOOK berichtete. Nach einem 40-minütigen Spiel erreichte er die 157. Stufe und damit den sogenannten „Killscreen“. An diesem Punkt ist das Spiel von der Spielerleistung überfordert und der Bildschirm friert ein. Damit stellt Willis Gibson einen Weltrekord auf, denn grundsätzlich ist es technisch gar nicht vorgesehen, Tetris regulär zu beenden. Unter denjenigen, die dem jungen Gamer zu dieser Leistung gratulierten, gehörte auch Henk Rogers, der Chef der Tetris Company und Freund des Erfinders Alexei Paschitnow.
Von der Sowjetunion nach Japan
In den 1980er Jahren arbeitete Alexei Paschitnow als Programmierer im Rechenzentrum der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften in Moskau. Um die Rechenleistung der damaligen Personal Computer zu testen, programmierte er ein einfaches Spiel. Inspirieren ließ sich Paschitnow von dem Spiel Pentomino, bei dem man Figuren, die aus je fünf Würfeln bestehen, zu einer Form zusammensetzt. Für Tetris beschränkte sich Paschitnow auf sieben zweidimensionale Figuren aus jeweils vier Quadraten. Der Name Tetris setzt sich dementsprechend aus tetra (griech. vier) und Tennis zusammen, der Lieblingssportart des Erfinders.
Die erste Version lief am 6. Juni 1984 auf einer Elektronika 60, damals noch ohne Sound und Farbe. In kürzester Zeit erfreute sich das neue Spiel größter Beliebtheit in Paschitnows Kollegenkreis. Im Sommer des Folgejahres entwickelte Paschitnow die erste Farbversion. Über Kopien verbreitete sich das Spiel bald in der Sowjetunion und schließlich in den übrigen Ostblockstaaten – bis es der Geschäftsmann Robert Stein in Ungarn entdeckte und das große Potenzial erkannte. Was folgte, war ein Ringen um die Tetris-Lizenzen, das selbst Michail Gorbatschow betraf.
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Wirtschaftskrimi um die Tetris-Lizenzen
Das Drama um die Tetris-Lizenzen ist wortwörtlich filmreif. 2023 widmete der britische Regisseur Jon S. Baird dem Geschehen einen Spielfilm mit Taron Egerton und Nikita Jefremow in den Hauptrollen. Nach der marktreifen Entwicklung von Tetris musste Paschitnow sämtliche Rechte an die staatliche Außenhandelsfirma Elektronorgtechnika (Elorg) abgeben. Unterdessen holte Robert Stein beim Rechenzentrum der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften mündlich die Computerrechte an Tetris für die Firma Mirrorsoft ein. Mirrorsoft war ein britischer Computerspiel-Publisher, der zum Medienimperium von Robert Maxwell gehörte.
Ob durch ein Missverständnis oder eine sehr großzügige Interpretation der Vereinbarung, Mirrorsoft sah sich legitimiert, weitere Sublizenzen in die USA, Europa und Asien zu verkaufen. Gemeinsam mit dem US-amerikanischen Spieleentwickler Atari Games erarbeitete Mirrorsoft außerdem eine Tetris-Version für Spielkonsolen. Das geschah jedoch ohne das Wissen der sowjetischen Elorg.
Unterdessen erwarb Henk Rogers, der spätere Co-Gründer der Tetris Company, im Auftrag von Nintendo von Atari Games die Tetris-Lizenz für die Famicom-Konsole. Dabei waren sich wohl weder Nintendo noch Atari Games darüber bewusst, dass Atari Games keine Konsolen-Lizenzen besaß und sie daher auch nicht weiterverkaufen konnte. Als Henk Rogers für Nintendos Game Boy schließlich auch die Handheld-Lizenzen erwerben wollte, konnte er sich nicht mit Robert Stein einigen. Also beschloss Rogers kurzerhand, nach Moskau zu fliegen und die Lizenzen direkt bei der Elorg zu kaufen.
Gehen drei Geschäftsmänner nach Moskau …
In diesem Zeitraum ermittelte die Elorg bereits im Tetris-Lizenzfall, da ausstehende Tetris-Tantiemen noch nicht an die Sowjetunion gezahlt wurden. Was Rogers jedoch nicht wusste, war, dass er nicht der einzige westliche Geschäftsmann mit Interesse an den Tetris-Lizenzen in Moskau war. Die Elorg empfing nacheinander am selben Tag Rogers von Nintendo, Robert Stein und schließlich als Mirrorsoft-Vertreter Kevin Maxwell, den Sohn des Maxwell-Company-Inhabers Robert Maxwell. Begegnet sind sich die drei bei der Elorg jedoch nicht.
Als Rogers als Erster bei der Elorg vorsprach, warb er mit der japanischen Version, deren Lizenz er bei Atari Games und somit mittelbar von Robert Stein gekauft hatte. Nun endlich flog das ganze Gebilde auf: Atari Games besaß keine Rechte an den Konsolen-Versionen und auch Nintendos Tetris-Versionen waren damit illegal. Rogers gelang es jedoch, aus dem Schock Kapital zu schlagen. Mit dem Konsolenriesen Nintendo im Rücken, konnte er sowohl die Lizenzen für mobile als auch stationäre Konsolen erwerben. Heraus kam 1989 der erste Game Boy mit Tetris als Standard-Spiel, was zu 70 Millionen verkauften Game Boys führte.
Deutlich weniger erfreulich verlief die Verhandlung für Robert Stein, der sich mit den Vorwürfen über ausbleibende Tantiemenzahlungen und unrechtmäßige Lizenzverkäufe konfrontiert sah. Als Letzter trat Kevin Maxwell auf, der ebenfalls erstmalig von den Lizenzverstößen erfuhr und die Verhandlungen zwecks Rücksprache abbrach. Die Elorg entschied sich dafür, Rogers die Handheld-Lizenzen zu verkaufen – wohl auch weil Maxwell unangenehm arrogant auftrat. Daran konnte auch der Protest des Vaters Robert Maxwell bei Michail Gorbatschow nichts ändern, zu dem er gute Kontakte pflegte.
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Tetris im Weltall
Insgesamt war das Moskauer Intermezzo für Henk Rogers und Nintendo ein voller Erfolg. Doch auch persönlich gewann Rogers einiges, da er sich mit Tetris-Erfinder Paschitnow anfreundet – ganz klassisch über russischem Wodka. Als Paschitnow 1991 nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in die USA auswanderte, gründete er gemeinsam mit Rogers die Tetris Company. Tantiemen für Tetris erhielt Paschitnow allerdings erst nach dem Lizenzende 1996. Heute wird sein Vermögen auf etwa 21 Milliarden US-Dollar geschätzt.
Dass Tetris so erfolgreich wurde, hat aber nicht nur mit seinem Erscheinen auf dem Game Boy zu tun, sondern auch mit der eingängigen Musik. Der klassische Tetris-Sound der Game-Boy-Version geht auf das russische Lied Korobeiniki zurück, das wiederum auf dem gleichnamigen Gedicht von Nikolai Alexejewitsch Nekrassow von 1861 beruht. Besungen wird ein nächtliches Techtelmechtel, charakteristisch ist die immer schneller werdende Melodie.
Doch auch nach den umtriebigen Anfangsjahren kann Tetris auf eine bewegte und rekordreiche Geschichte zurückblicken. 1993 schaffte es das Spiel als erstes Computerspiel ins Weltall. Der russische Kosmonaut Alexander Serebrow trat die Reise zur Raumstation Mir mit seinem Game Boy und natürlich auch mit Tetris im Gepäck an. 2014 wurde dieser Rekord im „Guinness World Records 2014 Gamer’s Edition“ anerkannt.
Doch auch weniger rühmliche Phänomene sind fest mit dem Spiel verknüpft, beispielsweise der Tetris-Effekt. Bei diesem Phänomen beginnen Tetris-Spielende ihr Denken, Träumen und ihre visuelle Vorstellung an das Spiel anzupassen. Dieser Effekt tritt nicht nur bei Tetris auf, wurde aber in Studien mithilfe dieses Spiels bei den Probandinnen und Probanden untersucht. Daher gilt auch zum 40-jährigen Jubiläum des Erfolgsspiels: Weniger ist manchmal mehr. Den Stellenwert als kultur- und generationenübergreifendes Phänomen kann man Tetris jedenfalls nicht mehr nehmen.