27. Februar 2024, 17:29 Uhr | Lesezeit: 7 Minuten
Europas digitale Infrastruktur wächst und wird ausgebaut. Bezahlen sollen das unter anderem US-amerikanische Tech-Konzerne, zumindest wenn es nach heimischen Mobilfunk-Firmen geht. TECHBOOK erklärt, was es mit der „OTT Fair Share“-Debatte auf sich hat.
Mehr Geld für die digitale Infrastruktur Europas, bezahlt von US-amerikanischen Tech-Konzernen. Das ist die – stark verkürzte – Kernforderung der sogenannten „OTT Fair Share“-Debatte. Telekom, Telefónica, Orange und Vodafone gehören zu den Akteuren, die Streaming-Dienste wie Netflix aber auch andere große Unternehmen zukünftig zur Kasse bitten wollen. Die vier größten europäischen Telekommunikationsanbieter sehen dafür sogar über ihre Konkurrenz zueinander hinweg und bemühen sich um ein geschlossenes Auftreten, zuletzt auf dem MWC in Barcelona. Doch worum geht in „OTT Fair Share“-Debatte konkret?
Übersicht
Jahrelange Debatte lebt zum MWC wieder auf
OTT steht für „Over the Top“ Services. Gemeint sind Anbieter von Audio- und Video-Inhalten sowie Websites, die aber selbst keine digitale Infrastruktur bereitstellen. Große Streaming-Dienste wie Netflix, aber auch Cloud-Anbieter wie Google oder das Social-Media-Unternehmen Meta fallen darunter. Sie alle nutzen – bislang kostenlos – die Infrastruktur, die die Telekom, Telefónica, Orange und Vodafone bereitstellen.
Die europäischen Telekommunikationsfirmen finanzieren ihre Netze vor allem durch die Einnahmen aus Festnetz- oder Mobilfunkverträgen. Es sind also die Endkundinnen und Endkunden, die die finanzielle Last letztlich tragen. Auf der MWC-Keynote „Europe’s New Horizon“ zeichnet Tim Höttges, CEO der Telekom, ein düsteres Bild von der aktuellen Lage. Europa falle in Sachen digitale Infrastruktur weit hinter die USA zurück. Ein zersplitterter Markt, unterschiedlichste nationale Regelungen und fehlendes Geld für Investitionen – all das bremse Europas Zukunftsfähigkeit. Als Einwand könnte man dazu vorbringen, dass der Netzausbau auch oft genug an Genehmigungsverfahren und mangelnden Baukapazitäten scheitert. Dennoch ist Geld in jedem Fall ein zentrales Thema in der Debatte.
Wer zahlt für Europas digitale Zukunft?
Es ist nicht das erste Mal, dass sich Telekom, Vodafone, Telefónica und Orange mit Appellen an die Politik im Allgemeinen und die EU im Besonderen wenden. Während die Forderungen der CEOs auf dem diesjährigen MWC für einen besseren Digitalstandort Europa eher genereller Natur waren, sind die Details der Fair-Share-Debatte etwas konkreter. Große OTT-Dienstleister sollen die Mobilfunk-Firmen für die Nutzung ihrer digitalen Infrastruktur bezahlen – eine Art digitale Maut also.
Die Mobilfunk-Firmen haben dafür zwei wichtige Argumente: Zum einen wächst der Festnetz- und Mobilfunk-Datenverkehr in Europa jährlich um 30 bis 50 Prozent. Ein großer Teil davon stamme von US-amerikanischen OTT-Dienstleistern wie Google, Netflix, Meta, Microsoft, YouTube, Apple und Amazon. Im Jahr 2023 verursachten die fünf größten Anbieter etwa 55 Prozent des europäischen Datenverkehrs. Für die Netzbetreiber entstanden dadurch – nach eigenen Angaben – 15 Milliarden Dollar Kosten. Während Netflix und Co. mit diesem Datenverkehr Geld verdienen, etwa durch Werbung, möchten auch die Mobilfunk-Firmen die Nutzung ihrer Netze „ein Stück weit monetarisieren“, wie Telekom-CEO Höttges es ausdrückt.
Zum anderen betonen Telekom, Vodafone, Telefónica und Orange, dass für Europas Wettbewerbsfähigkeit weitreichende Investitionen nötig seien. Etwa müssen die Netzwerke mit Blick auf den Klimawandel und zunehmende Naturkatastrophen resilienter werden. Oder wie José María Álvarez-Pallete, CEO der der Telefónica S.A., es auf dem MWC 2024 sagte: „Wir sind die letzte Hoffnung der europäischen Technologie.“
OTT-Anbieter lehnen Netzgebühr ab
Markus Haas, CEO der Telefónica Germany, sagt dazu: „Wir brauchen Fairplay für die digitale Zukunft Europas. Immer mehr Daten fließen durch die europäischen Netze. Die Lasten für den Ausbau der digitalen Infrastruktur werden allein von den Netzbetreibern und ihren Privat- und Geschäftskunden getragen.“ Das klingt fast zu gut, um wahr zu sein: US-amerikanische Internet-Riesen unterstützen europäische Telekommunikations-Giganten, um gemeinsam alle Nutzerinnen und Nutzer unter anderem mit Glasfaser und 5G zu versorgen.
Doch natürlich gehören zu einer solchen Debatte immer mehrere Parteien. So verweisen beispielsweise einige OTT-Dienstleister auf ihre Beiträge zur globalen digitalen Infrastruktur in Form von Satelliten, Seekabeln und Rechenzentren. Ein weiteres beliebtes Argument ist jenes von Angebot und Nachfrage: Erst die Angebote von Google, YouTube und Co würden die Leistungen von Vodafone, Telekom, Telefónica und Orange für die Verbraucherinnen und Verbraucher attraktiv machen. Wenn es keine Netflix-Serie zum unterwegs Streamen gibt, braucht man auch keinen Handyvertrag mit 15 GB Datenvolumen.
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Kaum Bewegung auf EU-Ebene
Unterstützung in der Politik finden die Mobilfunk-Firmen auf EU-Ebene unter anderem in Margarethe Vestager und Thierry Breton. Vestager hat seit 2014 die Position als EU-Kommissarin für Wettbewerb inne und ist seit 2019 auch die geschäftsführende Vizepräsidentin und Kommissarin für Digitales in der Kommission von der Leyen. Thierry Breton ist seit 2019 EU-Kommissar für Binnenmarkt und Dienstleistungen und kennt sich ausgezeichnet in der Telekom-Branche aus. Denn er war von 2002 bis 2005 CEO und Vorsitzender von France Télécom, heute bekannt als Orange, wo er immer noch den Titel Ehrenvorsitzender innehat.
Vestager und Breton machten sich im vergangenen Jahr dafür stark, dass OTT-Dienstleister zukünftig ihren finanziellen Beitrag zum europäischen Netzausbau leisten sollen. Mit einem „fairen“ Modell sollen die Netzausbaukosten verteilt werden. Im später verabschiedeten Strategiepapier der EU-Kommission spielt das „Fair Share“-Konzept allerdings nur noch eine untergeordnete Rolle.
Versucht man nämlich, die Forderung zu konkretisieren, treten einige praktische und juristische Probleme auf. Einerseits muss sichergestellt werden, dass die Telekommunikationsfirmen die Entgelte auch tatsächlich im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher investiere. Erhöhte Gewinne und Dividendenzahlungen bringen Europa in der Digitalisierung schließlich nicht voran. Andererseits besteht die Gefahr, dass kostenpflichtige Dienste wie Netflix und in Teilen auch Google, Apple und Co diese Zusatzkosten einfach auf ihre Kundinnen und Kunden umlegen. Letztlich würden die Kosten dann doch wieder die „kleinen Leute“ tragen.
Gefährden Telekom und Co. die Netzneutralität?
Doch der größte Kritikpunkt an der „OTT Fair Share“-Forderung liegt in der befürchteten Gefährdung der Netzneutralität. Dieses Grundprinzip des Internets besagt, dass Netzbetreiber alle Daten gleich behandeln müssen. Es darf keine Unterscheidung bzw. Diskriminierung bezüglich Inhalt, Herkunft, Anwendung, Absender bzw. Anbieter und Empfänger geben. Alle Daten sollen in gleichem Maße schnell übertragbar und zugänglich sein. Doch möglicherweise würden Netzbetreiber die Daten jener Unternehmen bevorzugt behandeln, die für die Netznutzung bezahlen. Das befürchtet zumindest die europäischen Regulierungsbehörden BEREC.
Die European Public Telecommunications Network Operators Association (ETNO) ist naturgemäß anderer Meinung. Dieser Branchenverband setzt sich aus diversen europäischen Netzbetreibern zusammen, darunter auch mehreren Telekom- und Orange-Töchtern. Nach Meinung des Verbandes sei eine mögliche Ungleichbehandlung der Daten gar nicht Teil des Fair-Share-Konzepts. Auch Professor Thomas Fetzer sieht auf juristischer Ebene keinen Widerspruch zwischen Fair Share und Netzneutralität.
„Das kann man rechtstechnisch damit begründen, dass die Verordnung [zur Netzneutralität] nur Internetzugangsdienste regelt, also das, was vereinfacht gesagt, auf der letzten Meile beim Datentransport passiert. Bei der Fair-Share-Diskussion geht es aber um die vorgelagerte Interconnection-Ebene.“, sagte Fetzer gegenüber Basecamp, einer Plattform von Telefónica.
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Viele offene Fragen bei „Fair Share“-Umsetzung
Doch Kritiker sehen auch die Gefahr, dass OTT-Dienstleister, die keine Gebühr zahlen wollen oder können, ihre Angebote für die EU einfach einschränken könnten. Netflix soll für die Ausstrahlung in Europa extra zahlen? Gut, dann gibt es in der EU eben kein Netflix mehr. Zugegeben, damit würden internationale Unternehmen einen wichtigen Markt verlieren. In seiner zugespitzten Form ist dieses Beispiel unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Als Konsequenz wären europäischen Verbraucherinnen und Verbrauchern manche Inhalte dann nicht mehr zugänglich.
Dadurch könnte den großen europäischen Netzbetreibern letztlich doch eine Gatekeeper-Rolle zukommen, die die Netzneutralitätsverordnung eigentlich verhindern soll. Sollte eine EU-Verordnung die „Fair Share“-Regelung umsetzen, stellt sich außerdem die Frage, nach welchen Kriterien OTT-Anbieter und Entgelthöhen ausgesucht werden. Hier droht schnell eine Marktverzerrung, die juristisch instabil und einfach anzufechten wäre.